SCHRÖDER-Interview mit der WELT: „Unser Problem sind übertriebene Zuspitzungen und Nebenkriegsschauplätze“

Im Interview mit der WELT spricht unsere Bundesvorsitzende Ria über die Mission der JuLis und unsere Erwartungen an die FDP. Du findest es im Original hier.

Die Fragen stellte Ulf Poschardt.

Frage: Was ist in Ihrer Partei los, Frau Schröder?

Ria Schröder: Wir haben uns in der Zeit der Erneuerung nach der Bundestagswahl 2013 ein mutiges, optimistisches Leitbild gegeben und damit den Wiedereinzug der FDP in den Bundestag geschafft. Der Erfolg hat uns gezeigt, dass wir damit den richtigen Weg eingeschlagen haben. Leider gibt es immer wieder Aktionen Einzelner, die dazu im krassen Widerspruch stehen und von der guten Sacharbeit ablenken. Das können wir nicht gebrauchen.

Frage: Also ist der Thüringer FDP-Landeschef Thomas Kemmerich schuld? Das kann doch nicht Ihr Ernst sein?

Ria Schröder: Es geht nicht nur um Kemmerich. Aber er hat der Glaubwürdigkeit der FDP als weltoffene Partei massiven Schaden zugefügt. Es ist gut, wenn er anfängt, Konsequenzen zu ziehen. Aber natürlich ist eine Strategie nur erfolgreich, wenn nicht immer wieder jemand aus dem eigenen Team öffentlichkeitswirksam dagegen feuert.

Frage: Aber ist das bei Liberalen nicht normal: der Widerspruchsgeist und der bockige Individualismus? Mehr noch: Hat die FDP überhaupt genug an Freigeistern und Antiopportunisten, die nicht nur Neugierige oder zwanghaft FDP-Wählende interessieren?

Ria Schröder: Natürlich gibt es in der FDP Freigeister und Antiopportunisten, genauso wie feingeistige Intellektuelle und ungeduldige Drauflosprescher. Aber wir dürfen in unserem Widerspruchsgeist niemals beliebig oder gar rücksichtslos sein. Die Freiheit des Einzelnen ist Grund und Grenze unserer Politik, unabhängig davon, woher jemand kommt, was die Eltern machen, was er glaubt und wen er liebt. Diese Haltung ist der größtmögliche Kontrast zum Kollektivismus der Rechtspopulisten.

Ich frage mich ernsthaft, wie es Menschen mit Migrationshintergrund geht, wenn sich ein Bundesvorstandsmitglied der FDP erst mit Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten wählen lässt und zwei Monate später mit Verschwörungstheoretikern auf die Straße geht. Was macht das mit denjenigen, die aufgrund ihrer Herkunft, Hautfarbe oder Religionszugehörigkeit dem Hass der AfD und ihrer Anhänger ausgesetzt sind, wenn nicht einmal die liberale Partei sich mit aller Konsequenz abgrenzt? Der Einsatz für ein diskriminierungsfreies Leben für alle in unserer Gesellschaft ist zentral für mein liberales Selbstverständnis. Die FDP darf keine Zweifel daran aufkommen lassen, dass wir unsere offene Gesellschaft mit allen Mitteln verteidigen werden.

Frage: Kemmerich lässt sein Amt im FDP-Vorstand ruhen. Muss er die Partei verlassen?

Ria Schröder: Es muss klar sein, dass Kemmerich nicht für die Partei spricht. Wir Julis fordern, dass er Verantwortung für seine Fehler übernimmt und von allen Ämtern zurücktritt. Das ist das Entscheidende.

Frage: Der Staat ist übergriffig, die Freiheitsrechte sind in Gefahr, Wirtschaftspolitik ist gefragt, und dennoch dümpelt die FDP bei fünf Prozent. Was läuft da falsch?

Ria Schröder: Die aktuelle Lage macht vielen bewusst, warum eine liberale Partei gebraucht wird. Freiheit ist keine Floskel, sondern die Grundlage für die individuelle Lebensplanung und Entfaltung. Die FDP hat in den vergangenen Wochen etwa mit Vorschlägen zu Soforthilfen für mittelständische Unternehmen, der BAföG-Öffnung für Studierende und Konzepten zur Bekämpfung häuslicher Gewalt starke Oppositionsarbeit geleistet. Unser Problem sind übertriebene Zuspitzungen und Nebenkriegsschauplätze, die den Blick auf unsere gerade dringend benötigte Kompetenz in den Bereichen Wirtschaft, Bürgerrechte und Digitalisierung versperren.

Frage: Geht das ein wenig konkreter und weniger floskelhaft?

Ria Schröder: Wir brauchen Steuersenkungen bei der Einkommensteuer, damit Menschen entlastet werden und der Konsum angeregt wird; umfassende Reformen der Bildung: Hybrides und digitales Lernen muss zur Norm werden. Dafür brauchen Schulen entsprechende Mittel und mehr Autonomie, außerdem müssen Lehrerinnen und Lehrer konsequent weitergebildet werden. Der schleppende Breitbandausbau, die mangelnde Digitalisierung der Verwaltung und der Gesundheitsämter fallen uns jetzt auf die Füße. Das muss jetzt Priorität bekommen.

Frage: Wie soll es weitergehen? Muss die Spitze der Partei neu aufgestellt werden?

Ria Schröder: Wir tun gut daran, erst einmal unsere inhaltliche Ausrichtung zu überarbeiten. Derzeit verleihen wir unserem bewährten Leitbild einen neuen Schliff und sollten dann auch klären, mit welchen Köpfen und Schwerpunkten wir diese Strategie in Zukunft am besten nach außen vertreten können. Vor allem aber müssen wir dieses Leitbild auch leben. So können wir wieder stärker als die Stimme der Mutigen und Aufsteiger und nicht der Besitzstandswahrer wahrgenommen werden.

Frage: Ist das Kritik an Christian Lindner?

Ria Schröder: Konstruktive Kritik an der Parteiführung der FDP gehört quasi zur DNA der Julis, und es ist kein Geheimnis, dass wir auch mit den Prioritäten und Äußerungen von Christian Lindner nicht immer einverstanden sind. Aber wenn man möchte, dass die FDP stärker im Team spielt, kann man nicht immer alles, was einem nicht gefällt, nur beim Parteivorsitzenden abladen.

Frage: Ist die FDP noch zu sehr Honoratiorenpartei, obwohl sie eigentlich längst nicht mehr richtig zum Establishment dazu gehört?

Ria Schröder: Die FDP ist eine staatstragende Partei, und das ist gut so. Aber wir können das disruptive Element noch stärken. Das gilt natürlich für die Digitalisierung, aber ich will, dass wir mutiger unsere Beschlüsse vertreten. Dazu gehört der europäische Bundesstaat, um endlich das Kompetenzwirrwarr in der EU zu beenden, das liberale Bürgergeld als größte Reform des Sozialstaats seit Bestehen der Bundesrepublik oder eine Klimamarktwirtschaft, die die Kosten von Umweltschäden den Verursachern auferlegt statt kommenden Generationen. Neugierde auf die Zukunft, Visionen und Kreativität sind bei uns Liberalen zu Hause.

Frage: Warum sind so wenige Frauen bestimmend in der Partei? Ist der liberale Individualismus männlich kodiert in Ihrer Partei?

Ria Schröder: Nein, es zeichnet den Liberalismus gerade aus, dass er geschlechterunabhängig ist und das Individuum in den Mittelpunkt stellt. In der aktuellen Krise werden viele Familien durch geschlossene Kitas und Schulen wieder in alte Rollenbilder und Strukturen gedrängt. Für Frauen sind Selbstbestimmung und Emanzipation von zentraler Bedeutung, und das sind liberale Kernanliegen. Wenn das nicht so wahrgenommen wird, dann müssen wir daran arbeiten. Für mich gehört dazu aber auch die Frage, warum die vielen klugen weiblichen Stimmen der FDP, wie Gyde Jensen oder Bettina Stark-Watzinger, so wenig gehört werden.

Frage: Warum nennen Sie nicht Linda Teuteberg?

Ria Schröder: Tatsächlich gibt es noch so viele Namen, die ich hätte nennen können. Unsere Juli-Europaabgeordnete Svenja Hahn zum Beispiel. Aber als Generalsekretärin gehört Linda Teuteberg jedenfalls zu denjenigen, die kein Problem haben, gehört zu werden.

Frage: Und warum ist das so?

Ria Schröder: Fragen Sie doch mal die Talkshowredaktionen, warum aus der FDP immer Wolfgang Kubicki und Christian Lindner eingeladen werden? Wir haben drei Frauen in herausgehobener Stellung im Präsidium, zwei Ausschussvorsitzende und sehr kompetente weibliche Abgeordnete in Land und Bund.

Um mal bei dem Beispiel Talkshow zu bleiben: Zwei Drittel der Gäste sind Männer und das, obwohl Deutschland seit 15 Jahren eine Bundeskanzlerin hat. Bei den Grünen konnte man beobachten, dass sich die Diskussion um die Kanzlerkandidatur direkt auf Robert Habeck konzentriert hat. Es gibt nach wie vor eine bestimmte Erwartungshaltung daran, wer ein Politiker ist.

Frage: Sind Sie für Annalena Baerbock als Kanzlerkandidatin der Grünen?

Ria Schröder: Ist es denn so abwegig, dass auf die erste Kanzlerin direkt noch eine Kanzlerin folgen könnte? Warten wir doch erst mal ab, ob eine Kanzlerkandidatur der Grünen überhaupt noch realistisch ist.

Frage: Auch sonst ist die FDP in Sachen Diversität etwas blass. Dabei sind Integrationsgeschichten in der Regel Emanzipationsgeschichten. Also eine wunderbare liberale Sache. Warum ist so jemand wie Belit Onay, der neue Oberbürgermeister von Hannover, bei den Grünen und nicht bei der FDP?

Ria Schröder: Das ist eine sehr gute Frage. Wir haben in der FDP und bei den Julis hervorragende Konzepte, die das Ziel haben, Integration, sozialen Aufstieg und Emanzipation zu gewährleisten. Bei uns kommt es nicht darauf an, woher jemand kommt, sondern wohin er oder sie möchte. Und wir haben auch die entsprechenden Persönlichkeiten. Ihre Geschichte müssen wir noch öfter erzählen und Vielfalt in den Vordergrund stellen, ohne Menschen mit Migrationsgeschichte zur Schaufensterpuppe zu machen.

Ich finde es großartig, wenn Junge Liberale in den sozialen Medien Klischees entgegentreten und deutlich machen, wie divers unsere Lebenswege sind. Und auf den Vorschlag von Konstantin Kuhle und Johannes Vogel, die Einbürgerung zu einem Festakt zu machen, haben sich viele Menschen gemeldet, die sich danach sehnen, dass wir stolz und selbstbewusst auf Einwanderung und Vielfalt blicken – in der FDP und in Deutschland.

Frage: Sind die Julis bunt genug? Was tun Sie dafür?

Ria Schröder: Können die Julis jemals bunt genug sein? Unser Anspruch ist es, das Umfeld zu schaffen, in dem Junge Liberale zur politischen Mitgestaltung motiviert und ermächtigt werden, unabhängig davon, woher sie oder ihre Eltern kommen. Bei uns hat sich vor Kurzem eine Gruppe zusammengefunden von Jungen Liberalen mit Migrationshintergrund, die sich austauschen und den Kontakt zu Verbänden pflegen. Das Eintreten gegen Rassismus und Diskriminierung ist für unsere Programmatik und unser Verbandsleben zentral. Aber natürlich können wir immer besser werden. Beim nächsten Bundeskongress wird unser zentrales Thema sozialer Aufstieg sein.

Frage: Puh, was heißt das denn konkret?

Ria Schröder: Wir müssen Geschichten von gelungener Integration und Aufstieg erzählen und aus Erfolgen lernen. Warum sind manche Schulen besser darin, Menschen zu befähigen? Wo haben Menschen Hürden überwunden, und was kann die Politik dazu beitragen, dass es noch öfter gelingt? Einwanderung ist eine Chance und keine Bürde. Genau das spiegelt sich auch in unseren Konzepten wider.

Also konkret: ein einladendes Einwanderungsgesetz mit klaren Kriterien, eine Brücke von Asyl zu Migration für diejenigen, die Qualifikation und Willen zur Integration mitbringen, ein liberales Staatsbürgerschaftsrecht, das die Einbürgerung befördert, ohne die Verbindung in das Land der Eltern partout kappen zu wollen, ein Bildungssystem, das gerade diejenigen unterstützt, die zu Hause kein Deutsch sprechen und die keinen haben, der ihnen bei den Hausaufgaben hilft.

Frage: Was ist Ihr Lieblingszitat von Ralf Dahrendorf?

Ria Schröder: Ich weiß nicht, ob ich es Lieblingszitat nennen würde, aber ich habe erst kürzlich eines gelesen, das auch aufgrund seiner Aktualität großartig ist: „Einfache Antworten gibt es nicht, und es sollte sie auch nicht geben. Liberale dürfen sich durch diese Tatsache nicht verunsichern lassen und sollten sich niemals dafür entschuldigen, keine Patentrezepte anbieten zu können. Komplexität anzuerkennen, ist ein wesentliches Element liberalen Denkens. In diesem Sinne bleibt der Liberalismus eine eindeutig moderne Denkrichtung“.