KUHLE-Gastbeitrag zur doppelten Staatsbürgerschaft für „Zeit Online“

Anlässlich der jüngsten Diskussionen um die Zukunft der doppelten Staatsbürgerschaft für Deutsch-Türken schrieb der Bundesvorsitzende der Jungen Liberalen (JuLis), Konstantin KUHLE, heute den folgenden Gastbeitrag für „Zeit Online“ (http://www.zeit.de/politik/deutschland/2017-04/doppelte-staatsangehoerigkeit-tuerkei-doppelpass-abstammungsprinzip/komplettansicht):

Im hessischen Landtagswahlkampf 1999 sammelte die CDU unter ihrem damaligen Spitzenkandidaten Roland Koch Unterschriften gegen die Einführung der Doppelten Staatsangehörigkeit – es war ein erfolgreicher Wahlkampftrick. Die CDU gewann gegen die bisher regierende SPD und konnte so im Bundesrat Einfluss nehmen.

Weil beim türkischen Referendum auch 63 Prozent der abstimmenden Türken in Deutschland für Recep Tayyip Erdoğan und gegen die Gewaltenteilung stimmten, machen die Konservativen nun wieder Wahlkampf gegen den Doppelpass. Das ist heute genauso unbegründet und schädlich wie vor 18 Jahren in Hessen. Ja, es ist unterträglich, dass Menschen in Deutschland die Politik Erdoğans gutheißen, obwohl dieser Grundrechte wie die Presse- und Meinungsfreiheit missachtet, etwa indem er kritische Journalisten wegsperrt. Es schmerzt, dass diktatorische Umtriebe von Menschen unterstützt werden, die in Deutschland und Europa selbstverständlich von jenen Grundrechten Gebrauch machen, die gerade in der Türkei abgeschafft werden.

Aus diesem Grund ist es richtig, die deutsche Ausländer- und Integrationspolitik kritisch zu hinterfragen. Wir dürfen antidemokratische Haltungen nicht hinnehmen, sondern müssen uns folgende Fragen stellen: Warum gelingt es nicht, im Bildungssystem größere Wertschätzung für die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu vermitteln? Warum verteidigen wir die Werte des Grundgesetzes nicht offensiver in allen gesellschaftlichen Milieus? Wie gehen wir damit um, wenn sich Menschen bewusst gegen die Werte des Grundgesetzes entscheiden? Dies sollte in Deutschland etwa für das Bildungs- und Rechtssystem oder für den Arbeitsmarkt offen diskutiert werden.

Ein Anfang wäre, mehr deutschsprachige Imame und Religionslehrer auszubilden. Das schränkt zumindest den Einfluss des türkischen Staates in den deutschen Moscheen ein. Außerdem müssen die sozial schwachen Stadtteile gestärkt werden, damit hier der gesellschaftliche Aufstieg ebenso möglich ist wie anderswo. Ferner müssen Unternehmer und Beschäftige im Öffentlichen Dienst mit Migrationshintergrund ihrer Vorbildfunktion nachkommen. Sie sind Vorbilder, die wir sichtbar machen müssen. Und zu guter Letzt brauchen wir mehr Lehrer und, gerade angesichts des Zuzugs von Flüchtlingen aus dem arabischen Raum, eine besondere Ausbildung für die Begleitung von Integration.

All das wären sinnvolle Schritte. Der Vorschlag aber, den Türkeistämmigen den Doppelpass zu entziehen, ist nicht mehr als der Ausdruck blanker Hilflosigkeit. In Westdeutschland wird seit über 50 Jahren eine neurotische Debatte darüber geführt, wie viel Einwanderungsland man eigentlich ist. Noch im Jahr 2006 behaupteten führende Vertreter von CDU und CSU: „Deutschland ist kein Einwanderungsland.“ Zur Erinnerung: Seit dem ersten deutsch-italienischen Anwerbeabkommen im Jahr 1955 bis zum Anwerbestopp während der Ölkrise 1973 kamen Millionen sogenannte Gastarbeiter in die Bundesrepublik. Über 50 Jahre lang gaukelten sich Politik und Gastarbeiter gegenseitig vor, man werde irgendwann wieder getrennte Wege gehen. Ein großer Teil der Menschen blieb aber nicht nur in Deutschland, sondern holte sogar die Familien nach. Es bleibt das große Versäumnis aller Regierungen aus dieser Zeit, diese Einwanderungssituation entweder nicht erkannt oder aber bewusst verschwiegen zu haben.

Das hatte auch Folgen für die Staatsangehörigkeit. Wer nur zu Gast ist, wird nicht Staatsbürger. Diese falsche Vorstellung wirkt bis heute nach. Es stimmt zwar, dass Integration auch eine Bringschuld derjenigen ist, die neu in eine Gesellschaft kommen. Doch verhinderte das deutsche Recht über viele Jahre, dass sich Integration lohnt. Schließlich stand eine Einbürgerung gar nicht in Aussicht. In Deutschland gilt seit jeher das Prinzip, dass die Staatsbürgerschaft über die Abstammung weitergegeben wird. Ein Kind deutscher Eltern ist daher immer deutscher Staatsbürger, unabhängig davon, wo es geboren wird. Umgekehrt ist ein in Deutschland geborenes Kind nicht automatisch deutscher Staatsbürger. Dafür müssten nämlich die Eltern schon deutsche Staatsbürger gewesen sein.

Mit dem strengen Abstammungsprinzip unterscheidet sich Deutschland noch immer von klassischen Einwanderungsländern wie den USA. Diejenigen, die jetzt eine Einschränkung doppelter Staatsbürgerschaften fordern, sollten sich daher konsequenterweise für das uneingeschränkte Geburtsortprinzip einsetzen: Wer in Deutschland geboren wird, ist Deutscher. So weit wollte man bisher nicht gehen. Deswegen hat es in Deutschland seit dem Jahr 2000 verschiedene Reformen gegeben, mit denen das strenge Abstammungsprinzip durch Elemente des Geburtsortprinzips ergänzt wurde.

Das strenge Abstammungsprinzip passt nicht mehr in unsere Zeit.  Lebensrealitäten werden vielfältiger und internationaler. Der Staat tut gut daran, dies anzuerkennen. Menschen, die in zwei Kulturen aufwachsen, bringen Sprach- und Kommunikationskompetenzen mit, die die Gesellschaft bereichern können. Für viele Einwanderer der zweiten und dritten Generation eröffnete sich mit der doppelten Staatsangehörigkeit die Chance, trotz ihrer eigenen Versäumnisse und der Versäumnisse der deutschen Integrationspolitik auf etwas hinzuarbeiten.

Es geht nicht darum, die deutsche Staatsbürgerschaft unter Wert zu verramschen oder Menschen in Loyalitätskonflikte zu stürzen. Es geht darum, dass Deutschland eine Einwanderungssituation anerkennt, die über viele Jahrzehnte totgeschwiegen wurde. Wer sich in dieser Situation für den deutschen Pass entscheidet, sollte nicht durch übereilte Maßnahmen bestraft werden.

Nun zu den Zahlen und zum türkischen Referendum: Laut der im Jahr 2011 durchgeführten Volkszählung besitzen rund 4,3 Millionen Menschen hierzulande neben der deutschen Staatsangehörigkeit auch den Pass eines anderen Landes. Dabei ist die größte Gruppe nicht etwa die der türkischen, sondern jene der polnischen Staatsbürger. 250.000 Menschen haben hierzulande sowohl einen Deutschen als auch einen türkischen Pass, das ist nur ein Bruchteil der fast 1,5 Millionen wahlberechtigten Türken in Deutschland.

Von diesen 1,5 Millionen haben wiederum nur die Hälfte überhaupt abgestimmt beim Referendum. Davon gaben 63 Prozent ihre Stimme für Erdoğans Pläne. Wegen der geringen Wahlbeteiligung repräsentieren diese 63 Prozent nicht nur die Minderheit der türkischen Staatsangehörigen in Deutschland. Sie stellen vor allem die Minderheit der insgesamt 3,5 Millionen Türkeistämmigen dar, von denen viele längst einen deutschen Pass haben. Warum soll diese große Mehrheit der Türkeistämmigen nun dafür büßen, wie eine Minderheit abgestimmt hat?

Niemand kann sagen, ob es die gerade mal 250.000 deutsch-türkischen Doppelstaatler gewesen sind, die für die Reformbestrebungen Erdoğans gestimmt haben. Eines aber ist gewiss: Wer sich als Reaktion auf das Abstimmungsergebnis auf seine eigenen Rachegelüste verlässt, kommt der Politik Erdoğans gefährlich nahe. Die Union hat mit dem Thema Doppelpass einen alten Wahlkampfschlager wiederentdeckt. Andere Parteien sollten nicht den Fehler machen, diesem Retro-Vorschlag auf den Leim zu gehen.