KUHLE-Gastbeitrag zur Zukunft der EU für „Huffington Post”

Vor dem Hintergrund des Votums der britischen Bevölkerung die Europäische Union verlassen zu wollen, schrieb der Bundesvorsitzende der Jungen Liberalen (JuLis), Konstantin KUHLE, heute den folgenden Gastbeitrag zur Zukunft Europas für „Huffington Post“ (http://www.huffingtonpost.de/konstantin-kuhle/mut-eu-europa-parlament-politik_b_11074682.html):

Schluss mit der organisierten Mutlosigkeit in der EU

“Im Vergleich zu manchen nationalen Parlamenten ist das Europäische Parlamentgegenüber den anderen Institutionen relativ stark.” Ich traute meinen Ohren nicht – vor knapp fünf Jahren, im Herbst 2011, verbrachte ich ein Auslandssemester in Paris.

Während dieser Zeit befand sich die Eurozone auf dem Höhepunkt der Schuldenkrise. Noch nach den Vorlesungen diskutierte ich mit italienischen und spanischen ERASMUS-Kommilitonen über das Für und Wider von ESM und Eurobonds. An eine Vorlesung über die Politik der Mitgliedstaaten in der Europäischen Union kann ich mich besonders gut erinnern. Der französische Professor sprach über die Rolle des Europäischen Parlaments und sagte diesen wundersamen Satz. Ein starkes Europäisches Parlament? Hatte ich nicht in einer Vielzahl von politischen Veranstaltungen in Deutschland das Gegenteil eingebläut bekommen?

Nachdem ich mich voller Skepsis zu Wort gemeldet hatte, war ich schnell als deutscher ERASMUS-Student enttarnt. Obwohl ich brav die ganze Salve der Kritik am Europäischen Parlament aufgesagt hatte – vom fehlenden Haushaltsrecht des Parlaments bis zum mangelnden Initiativrecht für Gesetze – erntete ich bei der Mehrzahl französischer Studenten im Raum nicht mehr als ein Achselzucken. Mir ist erst in diesem Moment klar geworden wie sehr man die Europäische Union durch die Brille seiner eigenen politischen Sozialisation betrachtet. Für die Staatsbürger des straff auf einen starken Präsidenten ausgerichteten französischen Systems wirkt die Stoßrichtung deutscher Kritik bisweilen seltsam deplatziert.

Nicht erst seit dem Ergebnis der Volksabstimmung über ein Ausscheiden Großbritanniens aus der EU ist klar: Die Vielfalt der europäischen Völker spiegelt sich auch in der Vielfalt ihrer politischen Systeme. Kritiker der Europäischen Union verstehen sich als Bewahrer ihres jeweiligen Systems – von der konstitutionellen Monarchie wie in Dänemark, Spanien oder eben Großbritannien über das präsidiale Systems Frankreichs bis hin zum Parlamentarismus in Deutschland oder Polen.

Hinzu kommt die Vielfalt der Staatsaufbauten. Staatsgewalt wird in einem föderal aufgebauten Staat wie Deutschland anders wahrgenommen, kontrolliert und kritisiert als in einem Zentralstaat nach französischem Vorbild. Auf die Idee, den Briten, Franzosen, Spaniern oder Polen aufgrund eines abweichenden Regierungssystems oder Staatsaufbaus ihre Eigenschaft als Demokratie abzusprechen, käme man nicht. Sobald Staatsgewalt jedoch auf europäischer Ebene ausgeübt wird, herrscht unter den EU-Kritikern seltsame Einigkeit. Bei Präsident, Premierminister und Kanzler wähnt man sich unter guten europäischen Demokraten.

Sobald jedoch die Rede von Kommission, Ministerrat und anderen EU-Organen ist, wird das berühmte “Legitimationsdefizit” ins Feld geführt. Ob “Eurokratie” oder “Raumschiff Brüssel” – keine Worthülse, kein Vergleich ist zu platt, um das eigene politische System als Maß aller Dinge vom System EU abzugrenzen. Vernünftige Menschen, mit denen man gerade noch normal gesprochen hat, bezeichnen den Staatenverbund als „EUdSSR” und stellen die EU damit auf eine Stufe mit Stalins Massenterror.

Diese Überspitzung beruht auf einem Mechanismus, der so alt ist wie die Vorläufer der EU. Von Anfang an waren die Mitgliedstaaten selbst der Gesetzgeber der Gemeinschaft. So unterschiedlich die Staaten nach innen auch organisiert sind; bei der Entscheidungsfindung in den EU-Gremien in Brüssel, Straßburg und Luxemburg sitzen sie an einem Tisch.

Kein einziger Rechtsakt des Staatenverbundes wurde und wird erlassen, ohne dass zuvor ein Vertreter Deutschlands darüber abstimmen durfte. Generationen von Politikern, Wahlkämpfern und Medienmachern haben sich mit ihrem ritualisierten Brüssel-Bashing an der europäischen Idee versündigt. Das Abstimmungsergebnis über den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union sollte Anlass sein, den Bürgern endlich die Wahrheit über die vermeintlich abgehobene und entrückte Brüsseler EU-Elite zu sagen: Die Mitgliedstaaten haben es genau so gewollt.

Denn nur ein undurchsichtiges Vertragswerk lässt den Mitgliedstaaten ausreichend Spielraum für nationale Interessen und bürokratische Sonderregelungen. Nur ein technokratisch und bürgerfern anmutendes Europa gibt den Staats- und Regierungschefs die Möglichkeit für die volle rhetorische Breitseite gegen die EU, nachdem man dem gemeinsamen Kompromiss am Vorabend noch zugestimmt hat. Keine Gelegenheit wird ausgelassen, die Legitimität der EU in Frage zu stellen, obwohl man selbst mit Haut und Haaren Teil ihrer Organe ist.

Die Bürgerinnen und Bürger sind angesichts dieser Widersprüche zu Recht verwundert. Wie kann es eigentlich sein, dass sich im Grunde alle politischen Parteien darüber einig sind, dass es einer “weniger bürokratischen” EU bedarf und die gleichen Personen trotzdem vier oder fünf Jahre später wieder mit den gleichen platten Glühbirnen- und Krummen-Gurken-Parolen durch die Lande ziehen? Wie kommt es eigentlich, dass allerorts in Sonntagsreden an den Wert des Europäischen Einigungsgedanken appelliert wird, aber schon bei der nächsten Landtagswahl für ein bisschen Applaus die EU in ihrer Gesamtheit in Frage gestellt wird? Antieuropäischer Populismus erlaubt Profilierung zum intellektuellen Nulltarif.

So manche Reaktion auf das Brexit-Abstimmungsergebnis, innerhalb und außerhalb des Vereinigten Königreichs, legt nahe, dass viele Menschen den Wert Europas kürzlich mehr verinnerlicht haben, als Politiker, die seit Jahrzehnten mit dem gleichen Brüssel-Bashing auf Stimmenfang gehen. Viele Menschen haben in den letzten Tagen und Wochen verstanden, dass Europa mehr ist als die Summe seiner Teile. Und so ist auch die EU mehr als der Querschnitt der verschiedenen politischen Systeme und Staatsaufbauten ihrer Mitgliedstaaten. Vielleicht sind die Wahlen, Volksabstimmungen und Kampagnen dieser Tage die Geburtswehen einer europäischen Demokratie, eines gemeinsamen europäischen Verständnisses von der Legitimation und dem Aufbau, den Europa haben soll.

Pessimisten meinen, dass eine solche europäische Demokratie zwangsläufig an einer fehlenden europäischen Öffentlichkeit scheitern müsse. Die Legitimationskette von Jean-Claude Juncker ist schließlich nicht wirklich länger als jene von Angela Merkel – oder stand auf Ihrem Wahlzettel bei der letzten Bundestagswahl der Name der Bundeskanzlerin?

Wenn Sie nicht zufällig aus Mecklenburg-Vorpommern kommen, wo die Bundeskanzlerin selbst für den Deutschen Bundestag kandidiert hat, ist ein politischer Apparat zwischen Ihre Wahlentscheidung und die Wahl der Bundeskanzlerin geschaltet. Dieser unterscheidet sich nur darin von der Kür der EU-Kommissionspräsidenten, dass die Mechanismen zur Wahl des deutschen Bundeskanzlers in der Öffentlichkeit halbwegs bekannt sind und in aller Ausführlichkeit diskutiert werden.

Das Tragische ist: Europäische Öffentlichkeit wird derzeit fast ausschließlich von denen hergestellt, die die EU zerstören wollen. Dass man heute mehr über die verschiedenen Fraktionen innerhalb der Konservativen Partei Großbritanniens weiß als über die Zusammensetzung so mancher deutscher Landesregierung, ist ein Verdienst der Brexit-Kampagne.

Nachdem bei der letzten Europawahl erstmals europaweite Spitzenkandidaten von den Parteifamilien nominiert wurden, wollen die Staats- und Regierungschefs dieses Verfahren beim nächsten Urnengang im Jahr 2019 nun wieder abschaffen. Damit behindern die Verantwortlichen die Schaffung einer europäischen Demokratie. Wir dürfen die europaweite Debatte über Strukturen, Werte und Ziele aber nicht Nigel Farage, Marine Le Pen, Geert Wilders und Victor Orban überlassen. Es ist an der Zeit, dass auch proeuropäische Kräfte vermehrt in der Öffentlichkeit das Wort ergreifen. Folgende Punkte sollten sie dabei beherzigen:

Erstens: Die Europäische Union ist nicht perfekt Sie muss und sie darf sich nicht in allen Politikfeldern betätigen. Wenn sie sich aber in einem bestimmten Feld betätigen möchte, muss sich die Qualität ihrer Prozesse und Entscheidungen verbessern. Dafür ist vor allem ein Umdenken in den Hauptstädten der Mitgliedstaaten erforderlich. Es waren die Staats- und Regierungschefs, die mit ihrer Uneinigkeit in der Flüchtlingsfrage maßgeblich zu dem Vertrauensverlust in europäische Institutionen beigetragen haben. Und auch die protektionistische Abschottung Europas gegen andere Weltregionen ist in erster Linie Ausdruck nationaler Interessen. Der geltende Vertrag von Lissabon stammt aus einer Zeit vor Eurokrise und Flüchtlingskrise. In einem neuen Anlauf für eine europäische Verfassung könnten sowohl eine Insolvenzordnung für Mitgliedstaaten der Eurozone als auch ein neues verbindliches Asylsystem festgelegt werden. Darüber hinaus braucht die Europäische Union neue finanzielle Prioritäten. Mit über einem Drittel Ausgaben für die Gemeinsame Agrarpolitik setzt die Europäische Union bisher falsche Prioritäten für die Zukunft.

Zweitens: Das Projekt Europäische Union ist für ein wesentliches Maß an Frieden, Freiheit und Wohlstand in Europa verantwortlich. Keine Brexit-Diskussion verging in den vergangenen Monaten ohne die Erwähnung der Beispiele Schweiz und Norwegen. Schließlich seien Frieden, Freiheit und Wohlstand auch ohne die EU möglich. Letztere sei nicht mit Europa gleichzusetzen. Natürlich gibt es auch andere Formen der Zusammenarbeit von Staaten in Europa. Formal ist es richtig, zwischen EU, Europäischem Wirtschaftsraum (EWR) und Europäischer Freihandelsassoziation (EFTA) zu unterscheiden. Lässt man die Europäische Menschenrechtskonvention einmal außer Acht, so bestimmen aber faktisch die vier Grundfreiheiten des Rechts der Europäischen Union den Kerngehalt dieser Gebilde. Nicht ohne Grund warnten gerade Vertreter der norwegischen Regierung vor einem Brexit. In einem solchen Fall habe man sich für den Zugang zum Binnenmarkt an die Spielregeln der EU zu halten und könne diese nur schwer mitbestimmen. Die EU und ihre Vorgänger setzen seit Jahrzehnten Freihandel gegen den Protektionismus der Nationalstaaten durch. Die Kernidee der EU, durch eine immer engere Verflechtung der Staaten den Frieden auf dem Kontinent zu sichern, hat funktioniert. Das hat Europa der EU zu verdanken.

Drittens: Die Europäische Union hat nur als föderales Projekt eine Zukunft. Die Vielfalt politischer Systeme macht Europa ebenso stark wie wirtschaftlicher Wettbewerb zwischen den Regionen. Ein föderales Projekt ist der Gegenentwurf zum Schreckgespenst eines europäischen Zentralstaats. Ein Europäischer Bundesstaat schützt die Verfassungsidentität der Mitgliedstaaten statt sie zu zerstören. Die Forderungen nach einer Weiterentwicklung der EU sind daher keine fehlgeleiteten Antworten auf einen Brexit, sondern zwingende Folge. Das geht nicht? Schon im deutschen Kaiserreich nach 1871 waren Republiken (z. B. Hamburg und Bremen) mit Monarchien (z. B. Preußen und Bayern) in einem Staatsgebilde zusammengefasst. Das ist unrealistisch? In Spanien und in Italien verfügen die Autonomen Gemeinschaften und Regionen über einen unterschiedlichen Grad an Autonomie. Das ist weltfremd? Schon seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon im Jahr 2009 besitzt die EU eine eigene Rechtspersönlichkeit. Differenzierter Föderalismus ist gelebte europäische Verfassungsrealität. Der Widerstand gegen jede Weiterentwicklung der EU ist Ausdruck organisierter Mutlosigkeit. Wer den Begriff Bundesstaat nicht mag, darf sich natürlich gerne einen anderen aussuchen. Daran soll es nicht scheitern.

Viertens: Die Mitgliedstaaten müssen sich zur Staatlichkeit einer föderalen Europäischen Union bekennen. Wer jetzt fordert, die EU müsse sich weniger um Gurken und Glühbirnen und mehr um die großen Linien kümmern, bekommt dafür von Lissabon bis Riga Applaus, weil er nicht sagt, was er damit meint. Die Frage ist doch: Soll der Kern des gemeinsamen europäischen Rechts weiterhin über den Abschottungstendenzen der Mitgliedstaaten stehen? Ist uns die freie Bewegung von Menschen, Gütern, Unternehmen und Kapital in Europa so wichtig, dass wir ihre Durchsetzung auch gegen die Mitgliedstaaten akzeptieren? Wenn ja, dann muss diese Durchsetzung mit der nötigen Legitimation ausgestattet werden. Diese kann der EU durch transparentere demokratische Regeln verschafft werden. Dazu kann übrigens auch ein stärkeres Europäisches Parlament gehören. Die Mitgliedstaaten müssen nur wollen.

Fünftens: Beobachter beschwerten sich nach Rückzug von Brexit-Befürwortern. Nach dem Rückzug von Brexit-Befürwortern wie Boris Johnson und Nigel Farage beschwerten sich manche Beobachter zu Recht darüber, dass die Befürworter eines Ausscheidens des Vereinigten Königreichs aus der EU gar keinen Plan für die Zeit danach hätten. Betrachtet man das “Weiter so” in den Hauptstädten der Mitgliedstaaten hat man jedoch auch nicht den Eindruck, dass die anderen Mitgliedstaaten über einen Plan verfügen. Nach dem Brexit-Schock braucht es eine Diskussion darüber, wie das Miteinander der Menschen und Staaten auf unserem Kontinent in Zukunft organisiert werden soll. Am Ende sollte kein deutscher, britischer oder durch sonst irgendeine nationale Brille gefärbter Plan für die EU stehen, sondern ein gemeinsamer europäischer Plan.  Um eine solche Diskussion zu erreichen, dürfen Anhänger des europäischen Projekts nicht länger schweigen, wenn billiger Hohn und Spott über dem großartigsten Freiheits- und Friedensprojekt aller Zeiten auf unserem Kontinent ausgeschüttet werden.

Es ist richtig, über die Zukunft Europas und der EU zu streiten. Wer aber meint, die EU mit Diktatur und Faschismus gleichsetzen oder seine politischen Karriereambitionen in verantwortungsloser Weise mit antieuropäischem Populismus befeuern zu müssen, hat entschiedenen Widerspruch verdient. Ich jedenfalls werde dazu nicht mehr schweigen.